«Die Natur braucht langfristig gesicherte Flächen»

    Die Biodiversität nimmt ab, jede dritte einheimische Art ist heute gefährdet. Ohne wirksame Gegenmassnahmen drohen in den nächsten Jahren im Kanton Aargau viele einheimische Arten auszusterben. Matthias Betsche, Geschäftsführer von Pro Natura, setzt sich mit Leib und Seele für die Natur im Aargau ein und gibt ihr eine Stimme in der Politik. Hier gibt er einen Einblick über Schutzgebiete, aktuelle Projekte, Herausforderungen und zeigt, wo Handlungsbedarf ist.

    (Bild: zVg) Schaffen wir wieder mehr Feuchtgebiete, gewinnt die Aargauer Landschaft an Attraktivität. Hier die Gipsgrube Ehrendingen.

    Sie sind seit dem 1. Oktober 2020 Geschäftsführer von Pro Natura Aargau. Welche Bilanz können Sie bis jetzt ziehen, respektive wie haben Sie dieses Jahr erlebt?
    Matthias Betsche: Das Schaffen mit der Natur und für die Natur – das ist eine sehr schöne, bereichernde Aufgabe. Als Geschäftsführer von Pro Natura Aargau setze ich mich für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen ein. Da merkt man schnell: Es gibt viel zu tun! Ich erlebe dabei die Rolle des Geschäftsführers als sehr vielseitig. Sei es das Schaffen neuer Schutzgebiete für die Natur, Landkäufe zur Erhaltung von bedrohten Tieren und Pflanzen, das Aufgleisen neuer Naturschutzprojekte, das Führen des Betriebes, die Beratung von Anwohnern und Bauherrschaften, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen – es ist alles dabei.

    Wie steht es um Fauna und Flora im Kanton Aargau?
    Der Kanton Aargau hat so viel zu bieten. Denken wir nur an das stille Mettauertal, die wilde Reusstallandschaft, die freien Ufer des Hallwillersees oder die Schönheit der Schoggitaler-Landschaft des Schenkenbergertal. Es sind aber grosse Anstrengungen notwendig, um diese Vielfalt zu erhalten. Die Biodiversität nimmt ab, jede dritte ein- heimische Art ist heute gefährdet. Schlecht sieht es insbesondere für Arten mit spezifischen Lebensraumansprüchen aus. Ohne wirksame Gegenmassnahmen drohen in den nächsten Jahren im Kanton Aargau viele einheimische Arten auszusterben.

    Welche Projekte konnten in diesem Jahr neu aufgegleist oder erfolgreich weiterentwickelt respektive abgeschlossen werden?
    Hervorheben möchte ich hier unsere neue Aktion Hase & Co Aargau/ Oberaargau. Ziele der Aktion sind der Erhalt und die Vergrösserung von Strukturen und Vernetzungselementen wie Hecken, Ast- und Steinhaufen und Trockensteinmauern im Kulturland. Extensive Anbaumöglichkeiten im Ackerbau, Obstbau oder Rebbau und die extensive Beweidung sollen zusammen mit der Landwirtschaft gefördert werden. Dies ergänzt unsere bestehenden Aktionen, welche die Biodiversität in den Gewässerräumen beziehungsweise im Wald fördern.

    Pro Natura betreut und pflegt über 120 Schutzgebiete im Aargau? Wo liegt hier der grösste Handlungsbedarf?
    «Mehr Natur überall» ist die Devise von Pro Natura und selbstverständlich auch meine. Konkret bedeutet dies vor allem mehr und grössere Schutzgebiete. Denn im dicht besiedelten Aargau, wo jeder Quadratmeter begehrt ist, braucht die Natur langfristig gesicherte Flächen. Eine grosse Aufgabe ist die Vernetzung der Schutzgebiete, denn Tiere brauchen wie Menschen eine Infrastruktur. Sie müssen sich beispielsweise von Schutzgebiet zu Schutzgebiet bewegen können. Mit mehr Schutzgebieten und geschickter Besucherlenkung können wir auch mehr Naherholungsraum für die Bevölkerung schaffen.

    Welches sind die dringendsten Naturschutz-Anliegen im Kanton?
    Wir brauchen mehr Feuchtgebiete für Menschen, Tiere und Pflanzen. Das ist unsere Verantwortung als Wasserkanton Aargau. An Aare, Limmat, Reuss und Rhein erholen sich die Menschen besonders gern. Kin- der spielen an Bächen und Pfützen. Wanderungen entlang von Flüssen und Bächen sind beliebt. Weiher und Feuchtbiotope bieten manch stillen Winkel oder kühle Oasen in der Nähe von Siedlungen. Leider haben wir einen grossen Teil unserer Auen, Quellfluren, Feucht- und Riedwiesen, Bäche, Moore und Bruchwälder bereits verloren. Das sind unersetzbare Lebensräume für Biber, Fischotter, Forelle und Äsche, Feuer- salamander, Libelle und Eisvogel. Feuchtgebiete nähren das Grundwasser, schützen uns vor Überschwemmungen und sind attraktive Naherholungsräume. Schaffen wir wieder mehr Feuchtgebiete, gewinnt die Aargauer Landschaft an Attraktivität. Wenn Bäche wieder frei sprudeln, lebt die Natur auf. Beleben wir die Natur, fördern wir die Lebensqualität des Menschen ganz direkt.

    Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den Behörden?
    Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist sehr gut. Die Problematik im Naturschutz liegt im Auseinanderklaffen zwischen den gegenwärtigen Mitteln, die den Behörden zur Verfügung gestellt werden, und der realen Entwicklung der Biodiversität. Schauen Sie nur schon, wie schnell die Nutzungsintensität der Landschaft im Aargau zunimmt.
    Der Bodenverbrauch und die Zersiedelung unserer Landschaft schreiten rasant voran. Die noch verbliebenen Landschaften, Feuchtgebiete und Trockenwiesen sind zunehmend gefährdet.

    Sie sind selber Anwalt. Wieso braucht die Natur (im Aargau) einen Anwalt?
    Es ist wichtig, dass wir der Natur eine Stimme geben und dafür sorgen, dass zum Beispiel im Gesetzgebungsprozess, bei Vernehmlassungen oder bei Bauprojekten die Interessen der Natur berücksichtigt werden. Derzeit ist das besonders nötig. In vielen Bauprojekten oder Nutzungsplanungen werden Anliegen der Natur übersehen oder nicht beachtet. Ein kürzliches Beispiel ist die Nicht-Ausscheidung einer vom Gesetz vorgesehenen Pufferzone zum Schutze eines Hochmoors von nationaler Bedeutung. Hier bringen wir uns als Anwalt der Natur ein.

    Welches würden Sie als schönste Naturschutzgebiete im Aargau bezeichnen?
    Das ist eine schwierige Frage. Die Bünzaue in meiner Gemeinde Möriken-Wildegg hat es mir besonders angetan. Biber, Eisvogel, Zauneidechse und blauflügige Sandschrecke fühlen sich hier wohl. Ich könnte stundenlang in diesem Gebiet verweilen. Ich mag auch die Wildnis der Gipsgrube Ehrendingen oder des Schümels in Holderbank, die Weite des Auenschutzparks Rupperswil, das Boniswiler Ried am Hallwilersee, die weitläufigen Wie- senlandschaften und Trockenmauern des Jurasüdfusses, die «Tos- kana» am Nätteberg, und die vielen Feuchtgebiete und Oasen im Reusstal. Die Bevölkerung und die Natur profitieren gleichermassen von all diesen wunderschönen Schutzgebieten. Für die Menschen sind diese Flecken Erholungsgebiet, für die Tiere Lebensraum.

    Welches sind die erfolgreichsten Aargauer Natur-Schutzprojekte in den letzten Jahren?
    Es ist schon eine Weile her, beschäftigt uns aber heute noch: 1993 wurde auf Initiative von Pro Natura Aargau und weiteren Natur- und Umweltschutzorganisationen über den Verfassungsartikel zum Auenschutz abgestimmt. Er wurde mit über 67 Prozent angenommen und ein Jahr später in Kraft gesetzt. Das Ziel, mindestens 1 Prozent der Kantonsfläche zu Auengebieten umzuwandeln, wird mit den angestossenen Renaturierungsprojekten erreicht werden. Der Bau einer Aue wie gegenwärtig zum Beispiel in Sins Reussegg ist ein Generationenübergreifendes Projekt – es ist wunderbar zu sehen, wie hier ein kleiner Amazonas für Mensch und Natur entsteht!

    Das Freiwilligen Engagement für Pro Natura Aargau ist gross. Wie rekrutieren Sie diese Freiwilligen?
    Viele Menschen von jung bis alt kontaktieren uns und engagieren sich freiwillig oder ehrenamtlich. Das ist für die Natur ein riesiger Gewinn. Für die Freiwilligen ist spannend, dass wir bei Pro Natura Aargau ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten anbieten können. Ob Freiwillige lieber draussen tatkräftig anpacken oder drinnen strategisch mitwirken wollen – wir finden für alle Interessierte ein passendes Engagement. Wir freuen uns über begeisterte Gleichgesinnte. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Freiwilligen für ihr tolles Engagement herzlich bedanken!

    Pro Natura ist auch politisch sehr engagiert. Wie stark ist die Stimme von Pro Natura Aargau in der Politik?
    Zur Legislaturhalbzeit hat Pro Natura zusammen mit anderen Umweltorganisationen soeben das Stimmverhalten aller National- und Ständeratsmitglieder in Umweltfragen unter die Lupe genommen. Von den 49 für die Natur als besonders wichtig eingestuften Abstimmungen gingen 21 verloren. Das Umweltrating zeigt deutlich: Für ökologischen Fortschritt muss die Stimme der Natur in der Politik weiter gestärkt werden. Engagierte Naturschützer verdienen daher in der Politik ganz unabhängig von der Parteifarbe unsere Unterstützung. Im Kanton Aargau bringen wir uns als kundiger Gesprächspartner ein, wo es nötig ist: In der Landwirtschaftspolitik, in der Raumplanung, bei der Jagdgesetzgebung oder in Klimafragen.

    Was haben Sie in diesem Jahr auf politischer Ebene erreicht?
    Mit 51,9 Prozent stellte sich die Schweizer Stimmbevölkerung letztes Jahr gegen das missratene Jagdgesetz, gegen das die Schweizer Umweltverbände das Referendum ergriffen hatten. Mit 52.4 Prozent Nein lag der Kanton Aargau sogar über dem Schweizer Durchschnitt. Das Aargauer Stimmvolk stärkte somit den Artenschutz auch im Kanton Aargau. Mit Pro Natura Aargau setze ich mich bei den weiteren Diskussionen für einen nachhaltigen Umgang mit wildlebenden geschützten Tieren im Kanton Aargau ein.

    Pro Natur Schweiz hat bei der Schweizerischen Lauterkeitskommission gegen die Swissmilk-Kampagne Beschwerde eingereicht. Wieso fördert die Milchkuh Lovely die Biodiversität nicht?
    «Lovely fördert und liebt Biodiversität»: So wirbt die schwarzgefleckte PR-Kuh aktuell für den Konsum von Schweizer Milch. Den Konsumentinnen und Konsumenten wird mit der Werbung vorgegaukelt, dass der Konsum von Schweizer Milch die Biodiversität fördert. Das stimmt so leider nicht: Diverse Berichte des Bundes zeigen auf, dass die Umweltziele in der Landwirtschaft und Milchproduktion nicht erreicht werden. Aus den Ställen und Güllelagern sowie bei der Gülleausbringung verflüchtigen sich beispielsweise jedes Jahr 42’000 Tonnen Stickstoff in Form des Gases Ammoniak in die Luft. Die Belastungsgrenze durch Stickstoff ist in weiten Teilen der Schweiz überschritten. Der Bund will daher diese Emissionen der Landwirtschaft zurecht drastisch senken.

    Hat sich der Stellenwert und der Bezug zu Natur – auch im Rahmen der aktuellen Klimabewegung – in den letzten Jahren verändert?
    In Zeiten, da sich die Menschen Sorgen machen wegen der Klimaerwärmung, wachsen ökologisch ausgerichtete Parteien. So viel ist klar. Es ist erfreulich, dass über Natur- und Umweltschutz in der Gesellschaft wieder breiter diskutiert wird. Der Klimawandel wird in den letz- ten SRG Wahlbarometer-Umfragen von 44 Prozent der Befragten als die wichtigste politische Herausforderung für die Schweiz genannt. Was wir dabei noch mehr ins Bewusst- sein rücken müssen: Der fortschreitende Verlust der Biodiversität trägt wesentlich zum Klimawandel bei. Die Zerstörung der Natur kurbelt die Klimaerwärmung an. Der Schutz von Klima geht letztlich nicht ohne den Schutz der Natur. Die Biodiversitäts- und die Klimakrise sind nur gemeinsam lösbar.

    Warum ist die Arbeit in Sachen Naturschutz im Aargau noch nicht getan?
    Gestützt auf Studien des Kantons Aargau wissen wir, dass der effektiv zusätzlich erforderliche Flächenbedarf für die Natur im Kanton Aargau sich auf rund drei Prozent der Kantonsfläche für weitere Kerngebiete und rund drei Prozent der Kantonsfläche für weitere Vernetzungsgebiete beläuft, damit eine Biodiversität im Kanton Aargau langfristig erhalten werden kann. Der Handlungsbedarf ist also entsprechend hoch. Der Wasserkanton Aargau hat insbesondere 90 Prozent seiner Feuchtgebiete verloren. Wichtig ist also, dass wir bewahren, was wir haben, aber auch, dass wir unsere Oasen und sprudelnde Bäche wiederherstellen. Positiv für den Aargau ist, dass eine zerstörte Flussaue durch Renaturierung mitunter wiederherstellbar ist. Es besteht also viel Potenzial. Hier will ich einen wichtigen Beitrag leisten.

    Was wünschen Sie sich für den Aargauer Naturschutz für die kommende Zeit?
    Eine nachhaltige Entwicklung des Kantons Aargau. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage, das wichtigste Betriebsmittel unserer Wirtschaft und der Erholungsraum für uns Menschen. Als Geschäftsführer von Pro Natura Aargau wünsche ich mir, dass wir es im Kanton Aargau schaffen, die Natur mit ihrer Vielfalt und Schönheit für die nachfolgen- den Generationen zu erhalten.

    Interview: Corinne Remund

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